Matthäus 25, 1-14
- Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen,
die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen.
- Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf
waren klug.
- Die törichten nahmen ihre Lampen; aber sie nahmen
nicht Öl
mit sich.
- Die klugen aber nahmen Öl mit sich in ihren Gefäßen
samt ihren Lampen.
- Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig
und schliefen ein.
- Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam
kommt; gehet aus, ihm entgegen!
- Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten
ihre Lampen.
- Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns
von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen.
- Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf
daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den
Krämern
und kaufet für euch selbst.
- Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam;
und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und
die Tür ward verschlossen.
- Zuletzt kanen auch die anderen Jungfrauen und sprachen:
Herr, Herr, tu uns auf!
- Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch:
Ich kenne euch nicht.
- Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde,
in welcher des Menschen Sohn kommen wird.
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Am beliebtesten unter allen Parabeln war jedoch
im 13. Jahrhundert die Geschichte von den klugen und törichten
Jungfrauen. Wir sehen sie am Westportal der Kathedralen von
Amiens, Bourges, Notre-Dame in Paris, Reims, Sens, Auxerre,
Laon; die einen rechts, die anderen links vom göttlichen
Richter. Sie wohnen dem Jüngsten Gericht bei, in dem
sie eine Rolle zu spielen scheinen. Nach den Theologen sind
sie
wirklich die symbolische Verkörperung der Auserwählten
und der Verdammten. Ihre geheimnisvolle und furchtbare
Geschichte ist zugleich die Geschichte des letzten Weltabends.
Hören wir darüber die Glose ordinaire. Sie
lehrt uns zunächst, was die fünf klugen Jungfrauen
darstellen, und warum es fünf sind, denn in der Schrift
ist selbst eine Zahl niemals zufällig. Es sind ihrer fünf,
weil die klugen Jungfrauen die fünf Formen der inneren
Betrachtung versinnbildlichen; diese fünf Formen müssen
als die fünf Sinne der Seele angesehen werden. Sie sind
also das vollkommene Symbol der christlichen Seele, die sich
zu Gott wendet. Das Öl, das in ihrer Lampe brennt, ist die
höchste Tugend: die Liebe. Die fünf törichten
Jungfrauen stellen die fünf Formen der fleischlichen
Lust vor, die Genüsse der fünf Sinne, welche die
Wirkung haben, daß die Seele jeden göttlichen Gedanken
vergißt und die Flamme der Liebe in sich verlöschen
läßt. Der Bräutigam, den sie ebenso wie die klugen
Jungfrauen an der Schwelle des hochzeitlichen Hauses erwarten,
ist Jesus Christus. Sie warten lange, so lange, daß sie
vom Schlaf überwältigt werden; auch ihr Schlaf ist
symbolisch: er bedeutet die Erwartung der im Tode entschlafenen
Menschengeschlechter, die nach Iangen Jahrhunderten zu der Stunde,
wo Jesus zum zweiten Male kommt, erwachen werden. "Aber plötzlich",
sagt die Parabel, "ertönt ein Schrei mitten in der Nacht".
Es ist die Stimme des Erzengels, die Trompete Gottes, die ertönen
wird, wenn niemand es erwartet, denn der Herr wird kommen
wie der Dieb in der Nacht". Die Jungfrauen erwachen endlich und
erheben sich, wie sich die Toten aus Ihren Gräbern erheben
werden. Diejenigen, in deren Lampe die Liebe Gottes brennt,
treten mit dem Bräutigam ein; die anderen müssen draußen
vor der verschlossenen Tür bleiben, und der Bräutigam
sagt zu ihnen: "Wahrlich, ich kenne Euch nicht."
Nun begreift man, warum die Parabel von den klugen und törichten
Jungfrauen immer mit dem Weltgericht verbunden worden
ist. Ihre Anwesenheit bei diesem schrecklichen Drama bestätigt
den Christen das göttliche Wort; sie erinnert den Gläubigen
daran, daß Jesus Christus selbst alles vorausgesagt hat
und zwar unter der Verhüllung des Symbols.
Das Mittelalter blieb seinen hierarchischen Gewohnheiten treu,
indem es die klugen Jungfrauen rechts von Christus und die törichten
links anordnete, und indem es den klugen den Nimbus verlieh,
der bei den törichten fortblieb. Eine Tür öffnet
sich vor den Klugen und schließt sich vor den Törichten.
Émile Mâle : Die Gotik. Die französische
Kathedrale als Gesamtkunstwerk. Stuttgart, Zürich: Belser,
2. Aufl. 1994 S. 190 |