Von den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gehen nur
drei unverändert auf entsprechende Gliedstaaten des Deutschen
Reiches von 1871 bis 1945 zurück, nämlich Bayern, Bremen
und Hamburg. Alle anderen sind unter der Regie der Siegermächte
nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, die meisten aus Provinzen
des Königreichs Preußen, das durch den alliierten
Kontrollrat aufgelöst wurde, eine Aktion die eigentlich
schon 1918 auf der Agenda stand, aber von den Deutschen allein
nicht zu schaffen war.
Im Südwesten Deutschlands wurden Baden und Württemberg
1945 durch die Grenze zwischen der amerikanischen Besatzungszone
im Norden und der französischen im Süden entlang der
Autobahn (heute A 8) geteilt, Hohenzollern wurde mit Südwürttemberg
vereinigt. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland
1949 war dann die Frage heftig umstritten, ob Baden und Württemberg
in ihren alten Grenzen wiederhergestellt oder zu einem gemeinsamen
Bundesland vereinigt werden sollten. Es gab Volksabstimmungen
1950, 1951 und 1970. In Baden votierte 1951 eine knappe Mehrheit
für die Wiederherstellung des alten Landes; dazu kam es
aber nicht, weil nach Landesbezirken und nicht nach alten Ländern
ausgezählt wurde. Dies hat dann das Bundesverfassungsgericht
1956 beanstandet und eine neue Abstimmung, nur in Baden, angeordnet,
die aber erst 1970 stattgefunden hat. Bei dieser dritten Abstimmung
konnte das gemeinsame Bundesland, an das sich die Menschen inzwischen
gewöhnt hatten, einen triumphalen
Sieg feiern.
Offizielles Gründungsdatum von Baden-Württemberg ist
aber nicht 1970, sondern die Wahl des ersten Ministerpräsidenten
am 25. April 1952. Demnach begeht das Land Baden-Württemberg
im Jahr 2012 seinen sechzigsten Geburtstag. Er wird mit einer
Festschrift gefeiert, die noch größer und gewichtiger
daherkommt als der vor zehn Jahren zum Fünfzigsten erschienene
stattliche Jubiläumsband »Baden-Württemberg -
Vielfalt und Stärke der Regionen«.
Das Land verfügt mit den drei Volksabstimmungen über
eine Legitimation, wie sie kein anderer Gliedstaat der Bundesrepublik
besitzt. Dennoch wirken die Turbulenzen der Anfänge nach.
Die Geburtswehen des Landes werden zwar in der vorliegenden Festschrift
keineswegs thematisiert, sie begründen aber einen Drang
nach Selbstbestätigung, wie man ihn in anderen deutschen
Regionen bei aller Liebe zur Heimat nicht in solcher Stärke
feststellen kann.
Der Ausdruck »Erinnerungsort« ist eine Übersetzung
des von Pierre Nora geprägten französischen Begriffs »Lieu
de memoire«. Nora geht davon aus, dass sich das kollektive
Gedächtnis von sozialen Gruppen an bestimmten Orten festmacht,
etwa an der Place de la Bastille in Paris. »Lieu de memoire« wird
von Nora aber nicht nur geographisch verstanden, sondern auf
den Bereich der Staatssymbolik ausgedehnt. In diesem Sinne verstehen
die Herausgeber des vorliegenden Bandes auch Wappen und Hymnen
als »Erinnerungsorte«, ein im Deutschen sehr ungewöhnlicher
Sprachgebrauch. Darüber hinausgehend enthält der Band
unter seinen 51 Beiträgen auch ganz normale Aufsätze über
diverse landesgeschichtliche Themen, die lesenswert sind, sich
aber unter den Oberbegriff »Erinnerungsorte« beim
besten Willen nicht sinnvoll einordnen lassen, z. B. Auswanderung
und Einwanderung oder die Geschichte von Hörfunk und Fernsehen.
Nach den obligaten Grußworten und der ausführlichen
Einleitung der Herausgeber steht am Beginn das Thema »Staatssymbole«.
Darunter fallen das Landeswappen, die Landeshymnen - für
Württemberg, Baden und Hohenzollern nach wie vor separat
- und die alten Binnengrenzen des deutschen Südwestens.
Inwiefern Grenzen, zumal vergangene Grenzen Symbolcharakter haben
sollen, erschließt sich dem Leser nicht. Indessen hat die
anschauliche Dokumentation der alten Binnengrenzen schon einen
Wert, zeigt sie doch, welchen Fortschritt die Beseitigung dieser
verzwickten Grenzverläufe durch die Bildung des gemeinsamen
Bundeslandes darstellt.
Beim Wappenschild wurden seinerzeit vorliegende Entwürfe
eines Allianzwappens verworfen und die staufischen Löwen
gewählt. Die Bezugnahme auf ein mittelalterliches Reich
von europäischer Bedeutung war zwar für ein Bundesland
ein wenig zu hoch gegriffen, aber als Trost für die schwäbische
Seele sinnvoll, nachdem der leidenschaftliche Einsatz für
den Landesnamen »Schwaben« oder »Rheinschwaben« nicht
erfolgreich war. Vom Landesnamen ist im Jubiläumsband indessen
nicht die Rede. Darüber hat die »Badische Heimat« vor
zehn Jahren aufgrund der Protokolle der verfassungsgebenden Landesversammlung
berichtet (1/2002, S. 62 ff).
Die Auswahl der vorgestellten »Erinnerungsorte« im
engeren Sinne ist weit gestreut und nach Landesteilen schön
ausgewogen. Unter den betreffenden Beiträgen sind einige
brillante Studien, die den Band sehr lehrreich und wertvoll machen.
Da wird über Hohenasperg berichtet, die »schwäbische
Bastille«, ein spannender Überblick zwischen Willkürjustiz
und demokratischer Rechtspflege bis in die Gegenwart. Vorzüglich
auch die Aufsätze über Tübingen und das schwäbische
Geistesleben, über Meßkirch als Hochburg der Altkatholiken
und des badischen Liberalismus, über Korntal und den schwäbischen
Pietismus, über die frühe Industrialisierung am Oberrhein, über
die Orte der Erinnerung an Matthias Erzberger, über die
Straßburger Rheinbrücke, über den Aufstand in
Mergentheim 1809, über Freiburg und Vorderösterreich, über
Offenburg/Rastatt und die badische Revolution, über das
schöne Hochtal Bernau im Schwarzwald mit dem Maler Hans
Thoma und über Kloster Bebenhausen als Sitz des Landtags
von Südwürttemberg-Hohenzollern.
Wichtig und notwendig sind auch die Orte der Erinnerung an die
Herrschaft der Nationalsozialisten, denen viele Deutsche willig
gefolgt sind und die das Land in einen Abgrund von Schuld und
Zerstörung gerissen haben. Der Artikel »Von Karlsruhe
nach Kislau« schildert den öffentlich vor vielen Zuschauern
inszenierten Abtransport demokratischer Politi
ker im Mai 1933. Ein Erinnerungsort außerhalb der Landesgrenzen
ist dann Gurs in den Pyrenäen, wohin die Juden aus Baden
1940 verschleppt wurden. Für die ausgelöschten jüdischen
Gemeinden im gesamten Land steht beispielhaft die Geschichte
von Laupheim in Württemberg. Die sinnlose Fortführung
des Krieges 1945 auf deutschem Boden wird dargestellt an der
Rückeroberung von Crailsheim durch die Wehrmacht im April
1945.
In diesen Zusammenhang gehört auch der Untergang von Pforzheim
durch den Fliegerangriff vom 23. Februar 1945 mit fast 20000
Todesopfern. Er wird in dem Jubiläumsband am Ende eines
Artikels über das »alte Landschaftshaus« in
Pforzheim knapp erwähnt. Dieses Haus aus der Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts wird als »das erste deutsche Parlamentsgebäude« bezeichnet,
ein Befund, der sich in der Literatur sonst nicht findet. Die
Stube, in die Markgraf Karl II. im letzten Jahrzehnt vor dem
Umzug der Residenz nach Durlach 1565 gelegentlich die Vertreter
der »Landschaft« einbestellt hat, als Parlament zu
bezeichnen, ist schon mutig und die Einordnung der Katastrophe
von 1945 als kleine Randnotiz dazu sehr eigenartig.
Als erstes Gebäude, das in Deutschland für ein Parlament
errichtet wurde, gilt das »Ständehaus« in Karlsruhe
von 1822. Es wird im Rahmen eines gut informierenden Beitrags über
die badische Verfassung von 1818 in Wort und Bildern vorgestellt.
Dass es 1944 »vollkommen zerstört« wurde, stimmt
aber nicht. Das Ständehaus war zwar zum größten
Teil ausgebrannt, die drei Etagen seines Mauerwerks blieben aber
erhalten. Vom ehemaligen Schloss in Karlsruhe war ebenso wie
vom »Neuen Schloss« in Stuttgart nach dem Krieg nicht
mehr, sondern eher weniger übrig. Dass man das Ständehaus
im Gegensatz zu diesen Schlössern nicht erhalten hat, ist
ein bleibendes Ärgernis. Das nach langen Jahren auf dem
Grundstück errichtete »Neue Ständehaus« stellt
allenfalls eine gut gemeinte Karikatur dar. Die Säulen des
berühmten Plenarsaals waren nach 1945 alle noch da, für
den Neubau wurde nur noch eine davon in einem privaten Garten
vorgefunden und als »Erinnerungsort« eingebaut.
Der Beitrag »Karlsruhe -Stadt der Demokratie und des Rechts« berichtet über
das Ständehaus nochmals in Wort und Bild - eine vermeidbare Überschneidung
- und hat seinen Schwerpunkt dann bei den hohen Gerichten, die
diese Stadt heute zur »Residenz des Rechts« machen.
Verschmäht wird eine Erinnerung an den ersten Geschichtsschreiber
von Karlsruhe Johann Caspar Malsch. Der hat in seiner 1728 lateinisch
veröffentlichten Stadtgeschichte eine Hymne auf Gerechtigkeit
und Gewaltenteilung eingefügt und genau die Stelle am Schlossplatz,
wo heute das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz hat, als Platz
für ein Gerichtsgebäude besungen, wo der Markgraf ein
vom Hofrat getrenntes Gericht errichten werde. Karl Wilhelm hatte
aber mit Gewaltenteilung nichts im Sinn, er baute dort ein Haus
zum Überwintern von Pflanzkübeln (»Badische Heimat« 1/2003,
S. 128 ff.). Das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts aus
dem Jahr 1968, das derzeit umfassend renoviert wird, darf auch
als Erinnerungsort an einen Vorausdenker der Rechtsstaatlichkeit
angesprochen werden, der in der amtlich verwalteten Stadtgeschichte
kaum mehr eine Rolle spielt.
Mannheim, die größte Stadt des alten Baden und zuvor
der Kurpfalz, wird als »Industrie-, Arbeiterund Zuwandererstadt« vorgestellt.
Für Informationen über die politische und kulturelle
Bedeutung von Stadt und Region müsste man auf den vor zehn
Jahren erschienenen Jubiläumsband zurückgreifen. Immerhin
war die Kurpfalz einst das vornehmste Territorium im deutschen
Südwesten; der Kurfürst und Reichsvikar war der ranghöchste
Landesherr. Bei der Volksabstimmung 1952 gab die Region den Ausschlag
für das Stimmergebnis im Landesbezirk Nordbaden zugunsten
des gemeinsamen Landes. Eine frühe Gemeinsamkeit von Baden
und Württemberg war übrigens deren Bündnis gegen
den Pfälzer Kurfürsten, ihre Niederlage bei Seckenheim
1462 und die zehn Monate gemeinsamer Gefangenschaft von Markgraf
und Herzog im Heidelberger Schloss.
Der letzte Abschnitt des Jubiläumsbandes betrifft die »jüngste
Zeitgeschichte«. Angesichts der »historischen Zäsur
der deutschen Energiepolitik« 2011 kommt hier dem Erinnerungsort
Wyhl besondere Bedeutung zu. Der Geist des Widerspruchs im Dreiländereck
hat in diesem Dorf am Kaiserstuhl mit seinen 3700 Einwohnern
in den 1970er Jahren den Bau eines Atomkraftwerkes verhindert.
Hier im Land der Alemannen liegt eine Wurzel der grünen
Bewegung, die - ebenfalls 2011 - mit Winfried Kretschmann erstmals
einen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland
stellen konnte. Sein Portrait
mit grüner Krawatte grüßt am Anfang dieses Jubiläumsbandes.
Wenn der Leser das fast drei Kilo schwere, drucktechnisch perfekt
gestaltete Buch zur Hand nimmt, wird er noch mehr Beiträge
finden, als hier im einzel
nen erwähnt werden konnten, er wird seine Freude haben
an den vielen Bildern, Karten und Grafiken, und er kann sich
durch die ausführlichen Literaturangaben zu jedem Artikel
zum weiteren Studium anregen lassen.
Klaus P. Oesterle
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